»Da kommt der Freak,« sagte Heinrich und schmiss die Schleifmaschine an.
Draußen trug der langlockige Lutz ein Kreuz über die Schulter geschwungen wie einen Rucksack. Die zwei zusammengehämmerten Balken waren leicht genug, um sie zu ziehen, allerdings zu schwer fürs streckenlange Tragen. Ein dumpfraues Geräusch zerkratzte die Straßenstille und zerrte meine Aufmerksamkeit vom Schreibblock zum Bürgersteig.
»Den kenne ich,« sprach ich hinein ins Schleifsteingeschrei. Ein Dutzend Mal hatte ich einen Bogen um den krummschlaksigen Lutz gemacht, wenn er in der Einkaufsstraße ohne Hemd wild und wirr das Weltende aus dem Buch der Offenbarung verkündet hatte.
Ferdinand, der schweigsame Rentner zu meiner Linken, nickte. Seit dem Tod seiner Frau war sein Brunnenblick voll von sich kräuselnden Schatten. Seine schmutzgelben Finger drückten einen Pappbecher zu geometrischen Kegeln einer Sanduhr, als wollte er das Fortlaufen der Zeit symbolisiere. Und Clara, die treudoofe Hündin, zuckte mit ihren fast tauben Schlappohren.
»Uh-oh, er kommt rein.«
Zur Winterzeit besuchte ich Heinrichs Schusterladen häufiger, um am Wackeltisch beim Schaufenster an meiner Weihnachtsgeschichte zu feilen. Allein dieses Jahr wollten sich meine Gedanken nicht zu Wortpaaren verleimen. Viele Feierabende stand der Witwer schaupuppensteif unweit von mir und schwieg laut im Geräuschbad der Maschinen und atmete zuckelnd den Mief von Schuhsohlen. Wir waren wie Kneipenbesucher, und Heinrich spielte den Wirt, der uns Kaffee für fünfzig Cent ausschenkte.
Die Türglöckchen zerklirrten bei Lutz‘ Eintreten, und ein arktischer Luftzug wirbelte todbraunes Laub zu Claras Pfoten.
Der Freak musterte den Ferdinand, wie er da stumm und steinern stand, und sprach: »Du brauchst Jesus.«
Nach einer langen Weile, und ich meine eine sehr lange Weile, entgegnete dieser: »Du brauchst einen Kaffee.« Das war der erste Lebenslaut seit seinem wochenwährenden Schweigen, trockene Worte gepresst von spröde Lippen.
Mein Mund zerriss zum Grinsen. Der Holzbalken vom Kreuz schlug gegen die Treppe, und Heinrich bot Lutz die Wand als eine Art Kreuzgarderobe an, während er seine Brille mit den großrunden Gläsern den Nasenrücken hochdrückte.
Fünfzig Cent klimperten in den mattschwarzen Kaffeeautomaten, der eine billig braune Brühe braute – Stufe extrastark.
»Knöpf die Jacke zu, du frierst ja.« Ferdinand reichte Lutz den Becher und zupfte an dessen offenen Jacke. »Zu kalt für eine nackte Brust.«
»Verlaufen?« fragte Heinrich und strich sich sein langlichtes Haar über die kahle Kopfhaut.
»Gefunden,« sagte Lutz trotzig. »Das große Ende steht bevor.«
»Red‘ nicht so’n dummes Zeug,« sagte Ferdinand mehr gegurgelt als gesprochen.
Allmählich wurde die Begebenheit kurios genug zum Mitschreiben, also kritzelte ich Eindruck um Eindruck aufs Papier: Lutz‘ langfettigen Haare, seinen blaukalten Brustkorb und Ferdinands asthmatisches Atmen, das sich beim Verhallen der Maschinen in den Vordergrund ruckelte. Der Krebstod seiner Frau hatte Ferdinands Gedanken mit Metastasen befallen, sodass er täglich in langen Fußmärschen zwischen Couch und Küche vor sich selbst davonrannte, bis er den Druck nicht mehr widerstand und mit Clara an der Leine bei Heinrich im Laden landete.
»Marianna hat bis zur letzten Stunde an den Anfang geglaubt,« sagte der Rentner.
»Wer ist das?«, fragte Lutz.
»Meine Frau im Himmel.«
Und nun notierte ich diese Begebenheit wie im Rausch und verklebte die vielverstreuten Details zu langen Wortketten.
»Nie hat sie den Glauben an den Anfang verraten,« sagte Ferdinand, und Lutz, der Schreckensverkünder vom Weltende, schwieg, während der Schleifstein im Hintergrund summte und brummte.
Marianna hatte sich bis zum Schluss an die Wiederkehr des Anfangs geklammert, der sie wie ein erster Kuss zum neuen Leben erwecken würde. Vielleicht hatte sie recht und unsere Tage auf Erden waren eine Serie von Neuanfängen.
»Schau mich an,« sagte der Witwer und drückte seinen Kugelbauch nach vorne. »Dreiundsiebzig Jahre alt, und trotzdem suche ich einen Neubeginn.«
Plötzlich war es wieder geschehen, und Weihnachten verklärte sich zur Welt der Wunder und Zeit der Zauberer. Zu viert spielten wir in der Schusterstube unser eigenes Krippenspiel, wie ich es damals als Schuljunge zur Großaufführung getan hatte, als ich im Bettlacken verkleidet die Bühne in der Aula als Weiser aus dem Morgenland Torstens Stern am Stock bis zum Stall gefolgt war. Mein Vater hatte in der dritten Reihe peinlich laut auflachte, und die Lehrerin hatte ihn strengblickend gestraft.
Es war ja auch komische, wenn der Heiland im Stroh neben dem Esel plärrte. So auch hier in unserer eigenen Krippenkomödie, in der Henrich der handwerkelnde Joseph, der dickbäuchige Ferdinand die hoch schwangere Maria und Clara die dummbellende Eselin spielten. Und unser Lutz inszenierte den verwirrten Engel, der den Anfang einer Bestsellergeschichte mit dem Ende der Welt verwechselt hatte. Gemeinsam führten wir im Starkkleberdunst von reparierten Sohlen unser Stück vom Neubeginn auf, worin ich, der Frischgeborene, leere Seiten füllte.
Im Klangspiel der Maschinen schliffen Heinrich und ich um die Wette: er an seinen Sohlen und ich an meinen Sätzen. Und Ferdinand atmete tief ein wie beim Aufschlagen eines neuen Buchs.
Später torkelten die beiden kaffeetrunken davon, und Clara bellte hinterm kratzenden Kreuz, während sich der Horizont zu rottropfendem Sirup verfärbte und der Glockenturm fünfmal gellte. Heute Abend wollte Lutz in der Einkaufspassage nicht das große Ende predigen, sondern den Stall beim Schuster, wo sich das Krippenspiel vom ewigen Neuanfang zugetragen hatte.
Fröhliche Weihnachten