Weihnachtsgedanken 2022 – Der Befund

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Ihre kleinen Füße stießen bei Tanzen oft gegen meine. Auf dem Tisch lag der Brief mit dem blauen Stempel, darin unsere Zukunft wie ein Richterspruch.

Meine Frau besaß eine Plattensammlung, die wir von Umzug zu Umzug mitgeschleppt hatten. Sie legte die Nadel auf. Es knackste. Es war der 24. Dezember. Stille Nacht. Und ihr Summen hob sich empor vor dem Hintergrund der Violinen. Heilige Nacht.

Wer wusste schon, etwas mit dem Wort „heilig“ anzufangen, das mysteriös und leer im Duden verstaubte. Es hatte irgendetwas mit Gott zu tun oder Engeln. Einige Wörter waren arm und reich zugleich, weil sie niemand erklären konnte, es sei denn das Leben selbst. Es war wie mit dem Wort „Liebe“, über das man sich eher missverstand als verständigte. Es waren inhaltslose Begriffe, an deren Rändern man aber in ein sprachloses Staunen stürzte. Vermutlich verhielt es sich auch so mit dem Heiligen, das erst sprach, wenn wir verstummten. Es war wie eine Farbe, die man zuvor nicht gesehen hatte, auf die man deutete und nicht erfasste, weil das Heilige stets größer war als die Summe aller Wörter. Ähnlich wie die Liebe.

Die Laborergebnisse hatten heute im Briefkasten gelegen. Der Tag, den man fortwährend von sich stieß, hatte uns eingeholt – an Heiligabend. Meine Frau hätte den Brief aufreißen können, doch sie hatte ihn an der Seite liegengelassen. Wir hatten beim Abendessen nicht darüber gesprochen. In meinen stummen Selbstgesprächen öffnete ich ihn mit einem Ritsch und las das Urteil. 

„Soll ich?“, fragte ich.

Sie schüttelte mit dem Kopf und führte mich ins Wohnzimmer, wo ihre Plattensammlung gegen die Wand lehnte wie umgestoßene Zinnsoldaten. Ein Rohrbruch hätte ihre Lebenssammlung zerstören können, doch sie war stets zu hoffnungsvoll, um pragmatisch zu sein. Ich bewunderte ihren Mut zur Hoffnung, der mir oft gefehlt hatte.

Der Brief mit dem Befund lag nun auf dem Wohnzimmertisch.

„Sollen wir ihn öffnen?“

„Lass uns tanzen.“

Ihr Flüstern war eine Bitte um Aufschub und zugleich so viel mehr. Sie wollte mir etwas zeigen, wofür mir die Jahre zuvor die Sicht gefehlt hatte. Unter allen Momenten war dieser bedrückendste der richtig. In meiner Ungeduld hätte ich den Umschlag mit einer kurzen Handbewegung zerrissen. Sie nicht. Weil sie alles anders tat als ich. Vielleicht hatte es deswegen so lange und so gut zwischen uns geklappt? Sie legte die Platte auf. Es knackste. Sie hatte recht gehabt, der Klang von Vinyl war runder, satter. Und das Knacksen gehörte dazu.  

Sie hatte das Tanzen stets mehr geliebt als ich, und ich schämte mich für jedes „Jetzt nicht“, mit dem ich ihre Einladungen abgelehnt hatte. Beim Tanzen war es wie mit der Liebe, von der man nicht wusste, was sie war, bis sie einen rhythmisch bewegte. So auch das Heilige.  

Stille Nacht. Dieser Tanz war anders. So auch die Frau an meiner Brust, als hätte ich sie nie ganz gekannt. Als wären ihre Worte nie zu mir hinauf- oder hinabgedrungen. Ihr Körper schien zerbrechlich. Vor uns schwebten ein paar Monate. Vielleicht ein Jahr. Oder etwas mehr. Was würden wir tun? Wohl tanzen, weil sie das immer am meisten gewollt hatte. Ich würde ihren abgemagerten Körper aus dem Bett hieven, weil sie es von verlangen würde, und ihre Füßchen auf meine stellen. Die Schallplatte würde knacksen, und sie würde sich an meinen Pullover hängen, während wir von einem Lied ins andere fallen würden, als wäre es das erste Mal, als wäre es das letzte Mal. Wenn sie sich nicht mehr festhalten könnte, würde ich sie wieder zurücklegen. Mit schmerzverdrehtem Lächeln würde sie sich bedanken, weil sie sich stets für jeden Tanz bedankte. So könnte es sein. Die nächsten Monate. Das nächste Jahr. Mit etwas Glück die nächsten Jahrzehnte. Das hing vom Befund ab.  

Der Brief lag auf dem Tisch. Zwischen uns. Wie der Anfang vom Ende, ganz ohne Zukunft. Die Schallplatte knackste, und sie summte Stille Nacht. Heilige Nacht, die so fremd und anders war wie meine Frau beim ersten „Hallo!“ Der Arm des Plattenspielers kehrte zum Ausgang zurück, und wir tanzten weiter.

„Schau, Schnee!“

Auf dem Tisch lag der Befund. Heilige Nacht. Die ganz andere Nacht – so neu wie der erste Tanz, so ewig wie der letzte. 

Wir senden viele herzliche Grüße zum Weihnachtsfest aus Ihrem Maklerkontor

Ihr Johann Jacob Pinckernelle & Günther Bially

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