Weihnachtsgedanken 2020 – Tonis Amen

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Amen ist das Hebräische „So sei es!“, das sich mir ein einziges Mal auftat; seitdem schwimme ich seinem Sog.

Mit dreißig feierte unser Freundeskreis das traditionelle Weihnachtsessen, bei dem Frank, unser Gastgeber, uns erneut zu seinem sonderlichen Spiel überredete. Die Regeln waren einfach: Man entblößte seine peinlichsten Geschichten, bis die eigene Scham im Gelächter der Zuhörer glühte. Ich hasste das und hätte lieber geschwiegen, wenn Frank nicht so ein Meister der Manipulation gewesen wäre. Schließlich legte auch ich mich unters Vergrößerungsglas und gab das Beschämenste zum Besten – all jenes, was ich vergessen wollte und keiner sehen sollte. Dies war Franks kurioser Humor, bei dem sich jeder im Pfuhl von Fauxpas der anderen suhlte.

Frank, unser Tenor, begann als erster und schöpfte aus einem Born bizarrer Begebenheiten aus Kirchenchorzeiten, sodass selbst bei Timm, dem kühlköpfigen Stoiker unserer Truppe, die Tränen trieften. Tinas Anekdoten waren weniger witzig als schmerzlich skurril, denn sie schied nicht zwischen Scham und Schamlosigkeit; niemand lachte, aber alle raunten.

Im Kern hatte Scham mit Nacktheit zu tun. Meine schlimmste hatte sechzig Sekunden gedauert und war unvergleichbar viel peinigender als jene Sportstunde, da die Fliehkräfte mir meine Shorts entrissen hatten zur kreischenden Belustigung der Mädels und Frau Simon mit der großen Brille. Im Grunde waren wir alle nackt, spärlich versteckt hinter Feigenblättern geschönter Geschichten.

Schließlich war ich an der Reihe und trat gequält vors gackernde Gremium grinsender Gesichter.

„Es trug sich also zu einst in Texas…“, begann ich.

…der blinde Toni hatte mich in seine Baptistengemeinde gezogen. Er war nicht ganz blind, nur fast. Er lebte in ständiger Furcht, auch den letzten Funken Licht zu verlieren. Auf seiner schwarzen Nase glich die Brille Aschenbechern. Der Kirchentempel war einst ein Kino gewesen – irgendwo in Downtown Houston. Ein farbiger Prediger im blauen Anzug und roten Schuhen stampfte die Bühne auf und ab, und farbige Frauen mit großen Busen skandierten „Halleluja!“ – meist sachlich falsch platziert. Ich war wahrlich im Kino und im falschen Film.

Die farbige Menge hob das Amen-Amen wellenartig empor, während ein Mikrophon die Runde machte, in das Leute von Gang zu Gang ihr Leben und Leiden in knacksende Lautsprecher sangen. Toni stieß mich mit heiliger Hand von der Bank, und plötzlich hielt ich das Mikro am Mund. Vierhundert Augen in farbigen Gesichtern schauten auf den einzig‘ Weißen, der die längsten sechzig Sekunden seines Lebens durch knackende Lautsprecher sang. Mein schönster und beschämenster Moment fielen zusammen.

Ich stammelte einen Satz von Schuld und Sühne, reimte einen zweiten mehr gerappt und gedrungen in verpackten Versen und zerhackten Zeilen – von dem, was gewesen, von dem ich nie genesen – während sich  das Amen-Amen über mich ergoss. Dies war die frohe Botschaft gewogener Worte in einem blechernen Reimesklang, der nur so und nicht anders zusammensang. Amen-Amen, so sei es, so sei es!  Sechzig Sekunden lang war alles Bestimmung; dann kam ich zur Besinnung.

Ich hielt Tonis Gesicht zwischen meinen Händen, seine dicke Brille von meinen Daumen bis zur Stirn hochgedrückt. Wir kreisten umeinander. Warum nur? Der Geruch von extra Zwiebeln stach aus seinem Mund, und der Chor rauschte über uns hinweg. Ich stand wie nackt unter stechenden Augen und hoffte, das war alles nicht geschehen. Die Röte verbrühte meine Wangen. Ich schämte mich wie kein zweites Mal. Dennoch wünschte ich bis heute, noch ein einziges Mal gerappt und gereimt ganz frei zu sein.

Ich sank auf die Couch. Frank stimmte das Amen-Amen an. Der Gesang stieg zur Decke, stürzte halb nieder, fing sich, schwang sich auf und kam in Wellen wieder, zu bedecken die Nackten und die Bleichen. Frank und Birte, Tina und Timm, Kai und Claudia. Schamrot für alles, was man war und nicht sein wollte, für alles, was war und nicht sein sollte – hinfort gespült von Franks Tenorstimme: So sei es! So sei es!


Günther Bially

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Wir wünsche allen ein frohes Fest!

Ihr Maklerkontor G. & J. E. Pinckernelle