Weihnachtsgedanken 2017 – Warten auf Schlomo

Jerry ist kein Hund; er ist ein Kater. Das dürfte sein arteigenes Problem auf den Punkt bringen. Manchmal schimpfe ich ihn „Du Mensch!“, weil er mir so ähnlich scheint.

Wir haben eine neue Nachbarin und er einen neuen Artgenossen: den jungen Kater Schlomo. Meiner ist der im Frack gekleidete: weiß gestiefelt, weiß behandschuht, weißer Stehkragen. Schlomo ist der Schwarze mit dem weißen Punkt auf der Brust.

Gewöhnlich läuft Jerry rechts zur Terrasse hinaus ins Gebüsch. Seit kurzem aber verschlägt es ihn nach links, wo sein neuer Nebenmann durch eine Luke ein- und ausgeht.  Dort beim Zaun hockt er eine lange Zeit mit den Katzenaugen gebannt auf ein Türchen, dass sich selten öffnet und häufig schließt.

Für Jerry ist nichts einfach. Er ist Beziehungslegastheniker und besitzt im Umgang mit Katzen zwei linke Pfoten. Wie trunken an Katzenminze unterliegt er stets aufs Neue der Anziehungskraft des fremden Fells und rennt dabei in offene Krallen. Es ist ein Katzenjammer, wenn er morgens blutig ins Wohnzimmer hineinschleicht.

Katzen sind überaus problembehaftet. Selten habe ich eine Spezies mit solch einer Faszination für die eigene Art und der Eigenart der sozialen Inkompetenz beobachtet. (Aber was weiß ich schon? Ich bin kein Tierologe.) Ich trage die Vermutung, dass Jerry es als Hund leichter gehabt hätte. Zugegeben: Es ist befremdlich, wenn sich die Vierbeiner beim ersten Treffen das Hinterteil beschnuppern; stimmt die Chemie aber erst einmal, geht alles wie von selbst.  Es ist so einfach wie skurril. Als Hund wären seine Probleme im Nu gelöst, er müsste anfangs nur über seinen eigenen Schatten springen.

Schlomo ist jung und ängstlich, und Jerry ist so sehr Pazifist, dass ihn selbst die Vögel in unserm Garten nicht als Bedrohung wahrnehmen. Zum ersten Mal ist er der Stärkere und weiß nicht, damit umzugehen. Kürzlich kreuzten sich die Schleichpfade der beiden Kater direkt vorm Schlafzimmerfenster. Schlomo deutet ihm seinen Respekt in geduckter Haltung; Jerry kennt sich aber mit Herrschaftsverhältnissen wenig aus. Er ist naiv und neugierig; vermutlich ist das normal. Ich hielt den Atem an. Die beiden belauerten sich. Eventuell könnten sie Freunde werden, gemeinsam umherstreifen und sich schon bald gegenseitig die Köpfchen sauberlecken – was bei genauer Betrachtung auch skurril schien, aber zumindest bräuchte ich ihn dann nicht mehr zu bürsten. Aus meinen Hoffnungen wurde leider nichts. Die Katzenwege trennten sich, und Jerry blickte Schlomo in verwirrter Spannung hinterher.

Eigentlich gäbe es auch nicht mehr viel zu berichten, wenn Jerry nicht unablässig beim Zaun warten würden. Selbst jetzt im Winter sitzt er dort mit angelegten Ohren und Staccato-Kopfbewegungen. Das große Warten hat ihn ergriffen und nicht wieder losgelassen. Es ist unter null. Vermutlich sollte ich rufen: „Mensch, Jerry komm‘ herein!“ Aber er hört ja nicht auf mich. Wie eingangs gesagt: Er ist kein Hund, sonst wäre sein Tiersein auch nicht so verschwurbelt.

Diese Situation scheint mir allzu vertraut, wie er dort – adrett und allein – im ersten Schnee beharrlich friert, Lichtsprünge weit entfernt von einem Köpfchenlecken, wo sein Leben immerfort nur dieses eine ist: ein Warten auf Schlomo.


Günther Bially