Weihnachtsgedanken 2018 – Herr Mahlers Poesie

Herr Mahler war unser Mathelehrer und Atheist. Er hatte mit der Religion nichts am Hut und war dennoch knietief darin verwurzelt.

Jedes Jahr aufs Neue zur Weihnachtszeit wohnte die Schülerschaft mit gespannter Begeisterung den öffentlichen Wortgefechten in den Schulgängen bei, wenn Herr Mahler unserem Religionslehrer theologische Breitseiten verpasste. Was für eine Gaudi! Der weißbärtige Mon Chichi, den Schülerstimmen zierlich oder despektierlich Papa Heinrich riefen, konterte behäbig aus der Defensive. Herrn Mahler gehörten die hiebfesten Argumente und der frenetische Applaus der Schülerschaft. Im Unterricht antwortete Papa Heinrich in seiner ganz besondere Weise auf die Sticheleien des Logikers: mit Spiel, Musik, Bild und Theater. Einmal brachte er sogar einen echten Esel mit in die Schule, um dem Krippenspiel den Klang und Geruch von Authentizität zu verleihen. Der Schulleiter stoppte beide an der Schulpforte und… aber das sparen wir uns für ein anderes Weihnachten auf.

Jener Winter, als ich fünfzehn war, hatte uns Schülern außer ein paar Wortgeplänkeln wenig zu bieten. Die beiden Lehrer mieden sich, und das Schuljahr wäre mit all seinem Schnee in Vergessenheit gerutscht, wenn Herr Mahler uns nicht die Poesie der Logik enthüllt hätte. Er steht mir immer noch vor Augen und vor der Tafel mit seinen dünnen Armen und den verbogenen Händen: „Das Geheimnis der Notwendigkeit schlummert in einer doppelten Negation. Sie ist das, was nicht nicht sein kann.“ Eigentlich hätte er auch sagen können: notwendig war, was sein musste. Das schien dasselbe, aber war es doch nicht. Mahlers Wortklauberei wurde mir später Wortzauberei. Ebenso wie Hamlets Sein oder Nicht-sein das gewaltige Universum als Frage umschloss und es zum Schwingen brachte, ließ Mahlers Definition die all-innewohnende Kausalkette klangvoll erzittern.

Aber vermutlich hätte ich auch dies vergessen, wenn nicht…

Wie alle U-Boot-Christen tauchte meine Familie nur zu Weihnachten und Ostern vor dem Kirchenschiff auf. Die beiden Ereignisse von Geburt und Tod Christi waren mir wohl bekannt. Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn und den Talente, sowie die Begebenheit von Verrat und Vergebung klangen mir eher fremd.

Ich erinnere mich an jenen Mitternachtsgottesdienst so deutlich, weil ich beim Ausgang gegen die Schulter von Herrn Mahler stieß und verdattert fragte, was er hier zu suchen habe.

Seine Antwort war so kalt wie schön: „Das, was nicht nicht sein konnte.“

Was mit fünfzehn unverständlich war, wurde mit dem Alter selbstverständlich. Der Mensch war keine mathematische Gleichung, sondern er erzählt sich selbst als Bühnenstück, stehend auf Brettern vor einem fallenden Vorhang. Und jede gute Handlung forderte das Unumgängliche, das Unausweichliche: den Kern, der nicht nicht hätte sein dürfen.  

Herr Mahler verschwand mit der Menge in den Schneewehen, während sich eine zweitausendjährige Erzählung wie notwendig wiederholte von Heiligen, Huren und Helden, getrieben von göttlicher Leidenschaft für Verlierer und Verlorene, in einer  Scheune, in der sich Engelchen, Teufelchen und Eselchen die Türklinke in die Hand gaben. Gewiss hatte Herr Mahler Recht gehabt, als er Papa Heinrich vorgeworfen hatte, dass sich die Weihnachtsgeschichte nie und nimmer hatte so zutragen können – aber ebenso wenig hätten sich unsere eigenen Lebensgeschichten so abspielen können, und doch erzählten wir sie nahezu theaterreif, so als ob alles nicht anders hätte kommen können.

Noch immer sehe ich Papa Heinrich seinen Esel zwischen fallenden Flocken füttern, während Herr Mahler im Kerzenschein auf seinen Geschenkkarton klopft, worunter hallend spricht – verborgen zwischen Schicht um Schicht – die eisige Poesie der Logik von dem, was nicht nicht hätte sein können.


Günther Bially

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