Weihnachtsgedanken 2015 – Madame Laveaux‘ Welt


Die Welt im Spiegel von Madame Laveaux‘ Augen drehte sich am Ende nur um Gott.

Als ich damals in Bordeaux studierte, wohnte eine alte Dame im Erdgeschoss unter mir. Manchmal hörte ich sie weinen, wenn ich im Badezimmer stand, wo sich der Schall seinen Weg durch die Rohre in mein Apartment suchte.  In ihrem letzten Winter hatte sie ihre Blicke zum Fenster hinausgehängt, wo die Stadt ihrer ungeachtet vorbeiging.

Sie wirkte allein, also winkte ich, mir nichts denkend; dann sprang ich in den Bus und nahm das Bild ihres erstrahlten Gesichtes mit. Von nun an, wann auch immer sich unsere Blicke kreuzten,  winkte ich, und ihre faltenumwobenen Augen würden aufleuchten und ihre dünnen Lippen zum Lächeln zerspringen.

Rückblickend war jenes Studienjahr surreal – wie die Hauptrolle in einem existenzialistischen Kinofilm. Ich las Sartre, Derrida und Foucault. Ich studierte Friedrich Nietzsches vielzitierten und wenig gelesenen Zarathustra, der die frohe Botschaft vom Tode Gottes verkündete. Meine Gedankenwelt war zum tollkühnen Seiltanz über dem Abgrund geworden, in den ich so lange gestarrt hatte, bis dieser in mich hineinstarrte.  In Nietzsches Zeilen hörte ich die Menge johlen; sie riefen Zarathustra, dem Verkünder des neuen Menschen, zu: „Lehre uns den Übermenschen!“ Noch nie hatte der Abgrund so tief geklafft.

Im Dezember, im Strudel der Gedanken, den Nietzsche unterm Arm, sprang ich aus dem Bus und betrat das Treppenhaus. Unerwartet öffnete sich ihre Haustür und Madame Laveaux sprach:

„Monsieur.“

Zögerlich trat ich ein. Drinnen stand eine Kanne Tee bereit. Ich war befangen, weil ich mich mit Französisch schwertat – Kleinkinder und Senioren konnte ich kaum verstehen.

„Was lesen sie?“, fragte sie.

Ich zeigte ihr den Zarathustra in meiner Hand.

„Oh, la métaphysique!“, sagte sie, und ihre Augen tanzten:  „Alles ist Metaphysik.“

Ich schlürfte Tee, und sie sprach vom bevorstehenden  Weihnachten und der Geburt Gottes; sie war Katholikin. Ich verstand nur wenig, und vieles ging beim Übersetzen verloren.

„Et vous?“, fragte sie mich; das heißt: „Und sie?“

Mit holprigem Französisch erzählte ich ihr von Nietzsche, der nur an einen Gott glauben würde, der verstünde zu tanzen. (Bis heute ist das wohl das einzige, worin Friedrich und ich übereinstimmen.) Ich sprach von Zarathustras Götterdämmerung und seinem letzten Menschen. All das war Metaphysik – und sehr sonderbar.

Auf dem Schrank entdeckte ich das Sepiabild einer jungen Frau in den Armen eines Legionärs. Marie Laveaux war einst wunderschön. Ihre mit Falten benetzten Hände schenkten mir Tee nach.

Im Januar kam der schwarze Wagen und nahm sie für immer fort.

Im Frühjahr darauf saß ich auf dem winzigen Balkon, die Blicke über die Balustrade geworfen. Die schöne Marie war letztlich zur Metaphysikerin geworden: auf der Suche nach den Anfängen aller Dinge und deren Ende. Alles Physische hatte sich ihr letztlich zum Zeichen gewandelt, das auf ein Davor, Danach und Dahinter deutete. Ihr Weihnachten kannte weder Stall noch Krippe, keine drei Könige und auch keine Myrrhe. Alles war ihr Anfang, alles war ihr Ende, und dazwischen fand das Leben statt – 87 Jahre lang. Voilà, la métaphysique!

Madame Laveaux setzte etwas zittrig die Teekanne ab. Mein Rucksack lag auf ihrer Couch und daneben der verstorbene Nietzsche, begraben in seinem Zarathustra. Über eine Tasse Tee und viel Zeit hinweg spreche ich zu ihr: 

„Madame Laveaux, lehren sie uns den tanzenden Gott.“

In meinen Erinnerungen lächeln ihre müden Augen.

„…und Marie, lehren sie uns auch den wahren Menschen!“


Günther Bially