Weihnachtsgedanken 2013 – Friedliche Weihnachten

Meine Lieblings-Weihnachtsgeschichte ist eine wahre. Sie begab sich vor 99 Jahren.

Womöglich ließe sich die Geschichte der Moderne lakonisch zusammenfassen als eine Vielzahl nutzloser Schlachten ohne erkennbares Ergebnis. 1914 mochten die Soldaten – eingegraben und eingefroren – ähnlich empfunden haben. Die Nationen hatten an eine kurze Konfrontation geglaubt; spätestens zu Weihnachten sollten alle wieder am Kamin sitzen.

Wenn man am 24. Dezember mit frierenden Füßen im Schneeschlamm versank und die Finger am eisigen Gewehrlauf verkrampften, könnte man schelmische, ja, umstürzlerische Gedanken spinnen: „Stell Dir vor, es ist Krieg, aber keiner geht hin.“ Dem Ulk und Lachen folgte die kühle Replik: „…dann kommt der Krieg zu dir.“
Dennoch: Geduckt in ihren Gräben stimmten die Deutschen den Stille Nacht Chorus an. Vielleicht nur hundert Schritte weit entfernt kauerten und horchten die Briten und verstanden kein Wort, wohl aber war ihnen die Melodie vertraut: silent night / holy night. Unerwartet erblickten die Engländer spärlich geschmückte Tannenbäumchen über den Stellungsgräben tanzen.

Dann geschah etwas Unfassbares: Ein kriegsmüder Soldat stieg aus dem Graben empor mit einer kerzenbestücken Tanne über dem Kopf. Alsbald tat es ihm ein zweiter gleich und trat ins offene Schussfeld geschützt mit nur einem kleinen Nadelbaum auf dem Helm. Gelähmt vor Verwirrung taten die feindlichen Scharfschützen keinen Schuss, sondern wagten – zaghaft und ängstlich – auf die sich nähernden Deutschen zuzugehen. In der Mitte der Todeszone blickte man sich entwaffnend in die Augen.

Ein wenig unbeholfen und ohne Fremdsprachkenntnisse zeigten Feinde sich nun Bilder von Frau und Kind in der Heimat, brachten billigen Schnaps und tranken gemeinsam, begruben die Gefallenen und spielten dort Fußball, wo gestern noch Kameraden gefallen waren.

Ein unfassbarer Streich überrannte große Teile der Westfront: Es war Krieg, aber keiner ging mehr hin. Für eine Tageslänge schrieb die Menschlichkeit Geschichte… bis der Krieg sie Tags darauf in einem Kanonengewitter wieder einholte.

Beim Verlassen des Kontors lege ich den winzigen Kunststoffweihnachtsbaum in meinen Beutel. Man weiß ja nie! Vielleicht werde ich ihn mir – lebensmüde und toll – wie einen Hut auf den Kopf stellen und bei meinem Nachbarn klingeln, der mich so gar nicht mag. Vielleicht schimpft er laut, während ich Stille Nacht summe. Vielleicht lacht er auch. Vielleicht schreiben wir gemeinsam Friedensgeschichte wie 1914.

Man stelle sich nur mal vor: Es ist Weihnachten und alle gingen hin.


Günther Bially