Weihnachtsgedsgedanken 2012 – Baustellen Besinnlichkeit

In eisiger Winterkälte beim Warten auf die Bahn erklärte mir einst ein Archäologiestudent das Geheimnis der hebräischen Sprache, die auf einem Drei-Konsonanten-Stamm fuße. Im Übergang zu Zeit- und Pluralformen erfahre die Stammform Wandlungen bis zur Unkenntlichkeit – ähnlich einem Menschenleben. Will man eine Wortbedeutung nachschlagen, so muss man diesen Stamm von Veränderungen befreien und seine Grundform erscheinen lassen; der Fachbegriff dafür lautet parsen.

Zwischen den fallenden Schneeflocken gewann die Erklärung des Kommilitonen eine mystische Schönheit. Mochte man gar das eigene Leben parsen mit dem Versuch, einen verborgenen Stamm abzulesen?

Besinnlichkeit ist eine Baustelle der Sinngebung, ein Zerlegen und Montieren. Sinngebung ist mühsam. Ein Pastor sprach einmal hinter vorgehaltener Hand, dass die Gemeindemitglieder die Bürde der Besinnung auf die Predigten abwälzten, insbesondere seine U-Boot-Christen, die nur zu Festtagen auftauchten. Aber auch der Ungläubige verdrängt angesichts der Lebensfreude gerne die eigene Grundlosigkeit, taucht ab und vergisst als submarin-Nihilist die ultimative Sinnlosigkeit der Welt. Das Leben ist halt kein Legokasten mit passenden Bausteinen.

Aktiver Glaube und Unglaube sind beschwerlich in Zeiten der Besinnung. Umso erstaunlicher ist es, dass einige wie zum Trotz die Last des Sinns auf sich nehmen, indem sie sich selbst auf der Suche nach einem verborgenen Stamm parsen und zusammenführen, einfach weil der Mensch das sinnbegabte Wesen ist, stets befähigt einen Hauch mehr des Sinns in die Welt zu flüstern oder weniger desselben in Heiterkeit zu ertragen.

Besinnliche Festtage.


Günther Bially