Weihnachtsgedanken 2021 – Herr Deuss

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In meiner Familie bin ich der Einzige, der an den Weihnachtsmann glaubt. Bis zum heutigen Tag.

Die Dachgeschosswohnung über uns hatte seit längerem leer gestanden. Niemand wollte sie, weil, so hatte es der Vermieter erklärt, es durch die Dachpfannen regnete, sodass es müffelte und schimmelte. Als ich elf war, hörte ich Schritte dort oben. Leise. Langsame. Schlurfende. Nie tagsüber, eher nachts, wenn ich im Bett lag oder zum Badezimmer huschte, dann ging jemand über mir vom Flur ins Wohnzimmer mit klopfenden Schritten. Kurz, kurz, lang, lang, kurz, lang, kurz – wie Morsezeichen. Ich wusste sie nicht zu entschlüsseln, da mir entweder das Werkzeug oder die Fantasie fehlte. Dabei hatte meine Mutter mich oft wegen meiner Frage „Was wäre, wenn…?“ belächelt. Was wäre, wenn man den Lichtschalter umlegte und Honig aus der Steckdose tröpfelte? Was wäre, wenn Frau Wildemann von unten gar nicht echt, sondern ein zweidimensionales Bild war? Und was wäre, wenn jemand über meiner Zimmerdecke Zeichen mit den Füßen sendete? Für Kinder ereignet sich das Universum stündlich neu mit zahlreichen Sternengeburten.

Es war in der Weihnachtsnacht, als ich aus der Wohnung schlüpfte und die Treppe nach oben schlich. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Auf dem kupfernen Namensschild stand: Deuss. Ich schob die Tür auf und tauchte ein in einen Geruch von süßem Tee umhüllt von einer Wolke aus Zimt. Drinnen tippelte und tappelte es, als telegraphierten Mäusefüßchen hinaus in die weite Welt. In der Küche brannte ein kleines Licht, und auch das Wohnzimmer war schwach erleuchtet.

„Komm‘ herein“, sprach eine geheimnisvolle Stimme wie das Lächeln der Mona Lisa.

Im Wohnzimmer war ein alter Mann. Klein, nicht gebeugt, eher grade, mir den Rücken zugewandt. Ein langer grausilberner Zopf lief hinab bis zum Boden. Oben war er kahl. Er stand an einem Stehpult, wo bei uns ein Fernseher im Zimmer war. Auf dem Mahagoniholz lag ein aufgeschlagenes Buch, über das sich eine klare Handschrift zog wie gemalt und ohne Korrekturen. Aus dem Küchenradio spielten klösterliche Klänge.

„Sie schreiben im Stehen?“

Es war eine dumme Frage, weil ich alles andere zuerst hätte wissen wollen. Was machte der Alte hier? Er wohnte hier. Irgendwie schon immer. Das wusste ich instinktiv. Aber warum hatte er einen langen Zopf? Aber selbst das war keiner Frage wert. Interessanter war, warum ich mich daran festhalten wollte wie an einem Seil?

„So schreibt es sich besser, mein Junge.“ Er hätte mich auch mein Sohn nennen können, das schien einerlei. „Man ist so mitten in der Geschichte.“ Jede seiner Silben leuchtet wie silberne Glöckchen. „Möchtest du einen Tee?“

Ich nickte. Er verschwand in der Küche und kehrte mit einer Tasse und einer Kanne zurück. Sonderbarerweise konnte ich nie sein Gesicht von vorne sehen, als bewegte er sich seitwärts, als hätte das Zusammenspiel von Licht und Schatten lediglich ein Profil geformt, das ich mehr erahnte als erblickte. Allein sein außergewöhnlich langes Haar war stechendscharf gezeichnet.

„Ich habe den Tee selbst gemacht.“

„Wie macht mal eigentlich Tee?“

Er antwortete nicht, stattdessen lachte alles um mich herum wie im Chor.

„Darf ich das Buch lesen?“, fragte ich.

„Um Gottes Willen, nicht vor seiner Zeit!“

„Warum nicht?“

„Es könnte den Verlauf ändern.“

Dann wusste ich es. Ganz sicher. Als hätte es mir jemand geflüstert. Als hätte es nie anders gewesen sein können. Dies dort war meine Geschichte, und Herr Deuss war der Geschichtenschreiber. Am letzten Tag, den jüngsten unter allen, würde nichts darin über mich geschrieben stehen, sondern ich selbst stand darin als Geschichte, die man erzählte wie die großen Märchen oder alten Mythen am Lagerfeuer, wieder und wieder, alle Zeiten hindurch.

„Ich muss zurück nach unten. Darf ich wiederkommen?“

„Sooft du willst.“

Die Wände schienen angeschwollen wie mit Gesängen, und der Tee lief mir mit dem Geschmack süßer Äpfel den Hals hinunter. Für einen winzigen Moment erblickte ich den Alten, als hätte eine Lichtkrümmung sein verborgenes Gesicht bestrahlt. Es war nicht, was ich sah, sondern wie ich sah, nämlich Details über Details, vom Hundertsten ins Tausendste, Bartstoppel und Falten, Lippen und Wimpern wie Flügelschläge. Jetzt wusste ich, dass Frau Wildemann tatsächlich ein Bild war, und erst Herr Deuss machte sie und uns all dreidimensional.

Ich schlich nach unten.

Jahre sind vergangen. Selbstverständlich war die Tür am nächsten Tag verschlossen. Doch der Alten hatte nicht gelogen. Irgendwie kann ich immer wieder zurück in seine Dachstube. Zur Weihnachtszeit liege ich wach mit den Blicken gegen die Decke, bis seine Schritte mit Botschaften an mich klopfen. Eines Tages wird die Tür mit dem kupfernen Namensschild wieder angelehnt sein, damit ich eintrete. Bei Tee und Kerzenschein wird der Alte mir meine Geschichte vorlesen wie ein Märchen, wie ein Mythos, weitergereicht von Mund zu Mund, tausendmal gewaschen und gereinigt im Prozess. Lesenswert. Erzählenswert.

Seit meinem elften Lebensjahr bin ich der Einzige in meiner Familie, der an den Weihnachtsmann glaubt. Beim Einschlafen schlurfen Füße über die Zimmerdecke, und ein silbergrauer Zopf zieht sich wie ein Rettungsseil über den Teppich.

Ihr Maklerkontor Pinckernelle wünscht Ihnen ein frohes Fest!

Günther Bially